Psychopath vs. Soziopath
Ein Mann wie Dynamit (10 to Midnight)
USA 1983
Regie: J. Lee Thompson, Drehbuch: J. Lee Thompson, William Roberts, Kamera: Adam Greenberg, Musik: Robert O. Ragland, Schnitt: Peter Lee-Thompson
Darsteller: Charles Bronson (Leo Kessler), Andrew Stevens (Paul McAnn), Lisa Eilbacher (Laurie Kessler), Gene Davis (Warren Stacey), Wilford Brimley (Captain Malone), Geoffrey Lewis (Dave Dante)
Synopsis: In Los Angeles treibt sich ein Serienmörder herum, der seine Probleme mit Frauen kompensiert, indem er den Geschlechtsakt durch blutrünstige Morde ersetzt. Polizist Leo Kessler und sein junger Partner Paul McAnn erwischen mit Warren Stacey bald schon einen Verdächtigen, der aber ein hieb- und stichfestes Alibi vorweisen kann. Weil Kessler überzeugt davon ist, mit Stacey den richtigen erwischt zu haben und er an der Hilflosigkeit des Apparates verzweifelt, konstruiert er belastende Beweise. Als der Schuss nach hinten losgeht, beginnt er den Killer mit unkonventionellen Methoden in die Enge zu treiben. Doch damit bringt er seine eigene Tochter in Gefahr ...
DER AUSSENSEITER: Nach längerer Zeit wenden wir uns mit dem hier besprochenem Film mal wieder einer Ikone zu. Charles Bronson, in den 70ern einer der bestbezahlten und populärsten Schauspieler der westlichen Hemisphäre, sah in den frühen 80ern seinen Stern sinken und unterschrieb mit dem Vertrag für die Cannon Group gleichzeitig auch das Ende seiner Karriere als seriöser Schauspieler. Golan und Globus hatten nicht viel Interesse daran, ihrem größten Star altersgerechte Rollen zu besorgen, sondern wollten ihn mehr als Actionstar in Konkurrenz zu den neu aufkommenden hard bodies setzen. Man sollte nicht vergessen, dass es Eastwood damals ganz ähnlich erging und dieser mit dem grauenhaften vierten Teil der DIRTY HARRY-Reihe in ähnlichen trüben Gewässern fischte. Was die Action angeht, gibt sich dieser als Thriller zu bezeichnende Film eher verhalten, das macht ihn allerdings nicht weniger reißerisch. Thematisch wurden hier zwei Kriminalfälle aus dem wahren Leben kombiniert. Einmal der des Mörders Richard Speck, der acht Schwesternschülerinnen tötete, sowie der eines namentlich nicht bekannten, aber umgehend aus dem Polizeidienst entfernten Beamten Scotland Yards, der Beweise manipulierte, um einen Serienkiller zu stoppen, der die Gegend um die Londoner Themse unsicher machte.
STEFAN: Und dennoch merkt man Bronson in EIN MANN WIE DYNAMIT über weite Strecken das typische DEATH WISH-Image nicht an. Im Gegenteil wird er ja als erfahrener, routinierter und deeskalativer Charakter gezeichnet. Für mich haben sich da schon einige Parallelen zu DAS STUMME UNGEHEUER ergeben: Die Actionhelden werden zu regelrechten Familientypen, wenn ein Serienmörder im Spiel ist. Das hat natürlich vor allem mit der Etablierung bürgerlicher Familienwerte und einer Aufrechterhaltung eines Rollenklischees (Mann/Vater als Beschützer der Familie) zu tun. Erst durch die Konstellierung des Actionhelden in eine familiäre Struktur kann der Plot die nötige „Fallhöhe“ bekommen, um eine Gefahrensituation für den Zuschauer nachvollziehbar zu machen. Dass damit aber gleichzeitig eine gewisse Destruktion der Härte und Unnahbarkeit des Actionhelden verbunden ist, eröffnet eine interessante Dialektik im Genre. Ich verfolge das Motiv des Serienmörders in der Filmgeschichte ja seit einiger Zeit und stelle da fest, dass er als „Bedrohung des Privaten“ und „Jedermann“ genau zu solchen Neukonstellierungen in den verschiedensten Genres führt. Man sehe sich bloß einmal an, welche Wandlung die Ermittlerfiguren im Kriminalgenre gemacht haben, die mit ihm konfrontiert waren.
FUNKHUNDD: Da habt ihr mir eine schöne Brücke gebaut, denn ich kann euren Beobachtungen nur zustimmen. Bronsons typisches Rächerimage wird hier eigentlich zum ersten Mal seit dem originären EIN MANN SIEHT ROT kontextualisiert und somit vermenschlicht. Kessler ist nicht wie Paul Kersey qua göttlicher Fügung zum Vigilanten bestimmt, sondern wird erst durch die Umstände dazu gemacht. Wenn Kessler in der zweiten Hälfte des Films das Gesetz zu seinen Gunsten beugt, ist das vor allem ein Akt der Verzweiflung – so verletzlich wie hier war Bronson in seinen späteren Filmen nie wieder. Kessler weiß, dass er Unrecht begeht. Und im Unterschied zur berühmten DEATH WISH-Reihe gibt es hier auch keinen Befürworter seines Alleingangs. Kessler stellt sich wie der Killer außerhalb der Ordnung und muss dafür (vermutlich) den Preis zahlen. Stefan hat ja schon im letzten Text angesprochen, dass Killer und Ermittler im Serienmörderfilm immer verwandt sind, der eine ist das dunkle Spiegelbild des anderen. Insofern ist das Ende von EIN MANN WIE DYNAMIT nicht weit von Michael Manns MANHUNTER entfernt, der am Schluss andeutet, dass der Ermittler das Werk des Killers fortführen wird. Um kurz auf Warren Stacey zu kommen: Mir fiel bei Betrachtung noch ein anderer berühmter Serienmörder ein, nämlich Ted Bundy. Wie dieser ist Stacey ein gutaussehender junger Mann, kultiviert und intelligent. Seine Morde sind keine Amokläufe, sondern minutiös geplant. Kessler bleibt nichts anderes übrig als die Regeln des Spiels neu zu definieren, weil er seinem Gegner in allen Belangen unterlegen ist.
A: Dass Warren Stacey nach einem wiederkehrenden Schema vorgeht ergibt sich ja schon durch den in der Terminologie festgelegten Begriff des „Serienkillers“. Dieser geht immer nach einem Muster und in zeitlichen Abständen vor und steht im Profiling im genauen Gegensatz zum „Massenmörder“ oder auch „Amokläufer“. Stacey selbst erschien mir keinesfalls als in irgendeiner Weise überlegen. Bereits zu Beginn, nach dem Raglands krachende Vorspannmusik endet, sehen wir ihn wie er seine Arbeitskollegin beobachtet und einen Flashback hat, bei dem er versucht ihr am Arbeitsplatz das Kleid auszuziehen. Als sie ihm daraufhin den Kaffee ins Gesicht schüttet, macht er eine ziemlich jämmerliche Figur. Nach der Beobachtung seiner Arbeitskollegin geht er in seine Wohnung und frönt dort seinem Körperkult. Die narzisstische Rückflucht die er begeht wird bereits an seiner Einrichtung offensichtlich. Ein Poster, das ihn in einer Karatepose darstellt, ein Plakat über Stierkampf, ein großer Spiegel, vor dem er sich ausgedehnt betrachtet und mit Pflegeprodukten versieht. Sein trainierter Körper, die gepflegte Erscheinung und seine Mimik, die eine Mischung aus Hass, Frustration und Triumph ausstrahlt, zeigt ihn als von Komplexen zerfressenen Menschen, der ein bedenkliches Maß an Überkompensation nötig hat. Tatsächliche Brillanz erzielt er dann nur bei seinen Mordhandlungen. Die Figur Charles Bronsons stellt den Gegenpol dar und bereits bevor die Musik des Vorspanns beginnt, werden wir mit ihr im Polizeibüro vertraut gemacht. Leo Kessler lässt sich nicht auf der Nase rumtanzen und weist den schleimigen Reporter, der ein paar Informationen abstauben möchte, gleich in seine Schranken. Leo Kessler bestimmt die Regeln, Leo Kessler hat Vorfahrt, Leo Kessler will den Killer. Interessant ist hierbei, dass Stacey ein derartiges Würstchen ist, dass er Kessler keine fünf Minuten täuschen kann. Sein Instinkt, jahrzehntelanger Polizeiarbeit geschuldet, „verrät“ ihm sofort, dass mit Stacey etwas nicht stimmt. Doch dieser weiß sich gut hinter den Regeln zu verstecken, den Regeln des Gesetzes. Und hier kommt der für mich interessanteste Punkt zutage, der diesem Film das Etikett zwiespältig verleiht wie kaum einem zweiten: Kesslers ungebremstes Verhalten, die Regeln einfach seinen Vorstellungen anzupassen, wenn Forensik und Justiz versagen, zeigt in seiner Drehbuchkonzeption einen bis zum äußersten gehenden Menschen. Eine absolut zwiespältige Figur, deren Handeln man eigentlich nicht gutheißen kann, egal wie negativ Stacey auch dargestellt wird. Doch besetzt mit der Selbstjustiz-Ikone Bronson könnte man meinen, der Film befürworte das Hintergehen der Justiz. Hier zeigt sich dann auch die von Funk erwähnte Ähnlichkeit von Pro- und Antagonist. Beide brechen die Regeln, doch Stacey tut es aus innerem Zwang – er ist krank – und Kessler aus äußerem. Doch Kessler wird Stacey später ebenfalls einem äußeren Zwang aussetzen, wogegen er, obwohl schon aus dem Polizeidienst entlassen, wie aus inneren Zwängen heraus handelnd erscheint. Eine psychologisch interessante Komponente, die bei einer anderen Besetzung – man denke an Sean Connery in SEIN LEBEN IN MEINER GEWALT – klar aufgehen würde, doch durch Bronson wird einem der Zugang erschwert, was natürlich den Reiz dieses Filmes ausmacht.
STEFAN: Die Anlehnung an den Ted-Bundy-Fall ist überdeutlich, darin stimme ich Funk zu. Angefangen bei der Charakterisierung des Täters über seine Wahl der Tatorte (Bundys spektakulärster Mord war ein Überfall im Studentinnen-Wohnheim) bis hin zu Details (etwa dass Bundy und Stacey beide VW Käfer fahren). Trotzdem Bundys Tatausführungen die Handschrift kühle Präzision aufwiesen, kann man sowohl Bundy keine minutiöse Tatplanung unterstellen, noch scheint mir dies bei den meisten anderen Serienmördern zuzutreffen. Bundy ist nach eigenen Aussagen zumeist einem diffusen inneren Antrieb gefolgt, der sexuell (sadistisch) motiviert war. Seine Opfer hat er dann zumeist zufällig ausgewählt, jedoch immer eine sehr durchdachte Tatausführung an den Tag gelegt. Am bekanntesten ist sein Trick mit dem verbundenen Arm geworden, mit dem er Mitleid provoziert hat, um so seinem Opfer nahe zu kommen. Dem gegenüber steht aber der bereits beschriebene Amoklauf im Wohnheim und vor allem sein letzter Mord an einer 14-Jährigen. Stacey ist ihm da recht ähnlich, wenn auch seine Motivation, wie Außenseiter schon sagt, eher aus extrem narzisstischen Kränkungen herzurühren scheint. Kessler (dessen Name wohl nicht ohne Grund wie der des berüchtigten Profilers „Robert K. Ressler“ klingt) ist ihm in gewisser Weise mit seiner ständigen Konfligierung von „legal“ und „right“ ähnlich. Wo Stacey auf der Basis seiner eigenen, der psychischen Struktur untergeordneten Moralvorstellung agiert (tötet), hebt Kessler sein (durchaus privates) Gerechtigkeitsempfinden über das Rechtssystem und meint damit einem common sense von „Recht“ zu dienen. Interessant für mich ist hier weniger die Qualität dieser Verschiebung von kriminalhistorischen Personen und Begebenheiten in die Fiktion, als der Grund dafür. Ich sehe EIN MANN WIE DYNAMIT als einen Film, der die von Philip Jenkins in „Using Murder. The Social Construction of Serial Homicide“ beschriebene „Panic“-Ära (1983 – 1985) mit einleitet: In diese Zeit fällt nicht nur die Aufdeckung von spektakulären Serienmordfällen (Henry Lee Lucas, verhaftet im Juni 1983), sondern auch eine Welle extremer Mediatisierung von Serienmordfällen. Angefangen bei der Yellowpress über Magazine (selbst in Hustler, Penthouse und Playboy gab es 1983 etliche Artikel zum Phänomen Serienmord) bis hin zu Fernsehmagazinen wie „20/20“, „Good Morning, America“ und „Nightwatch“ wurde Angst vor dem Serienmörder geschürt. Ein Film wie EIN MANN WIE DYNAMIT reagiert bereits sehr früh auf diese Hysterisierung der Öffentlichkeit und stellt dieser ein „Rezept“ zur Verfügung, das dem scheinbar fruchtlosen Treiben des Justizapparates endlich ein Handlungskonzept entgegenhält, das Ergebnisse produziert. Filme wie dieser (aber auch der in derselben Hinsicht interpretierbare DIRTY HARRY, der auf den ungeklärten Zodiac-Fall reagiert) bilden ein kulturelles Ventil. Dass dieses Ventil derartig reaktionären Dampf ablässt, könnte wiederum aus dem politischen Kontext jener Zeit verstanden werden. Wo zuvor (und danach) durch Verständnisproduktion und -stiftung Mitleid mit den psychisch kranken Tätern geherrscht hat, wird jetzt, 1983, in den Iden der Reagan-Ära auf defense und revenge gesetzt.
FH: Zunächst noch einmal zur „Überlegenheit“ Staceys: Diese ergibt sich weniger aus einer wie auch immer gearteten Charakterstärke – natürlich ist er vor allem Opfer seiner selbst und zutiefst verunsichert, vor allem gegenüber Frauen – als vielmehr aus der typischen Konstellation von Verbrecher (spezieller: Serienmörder) und Cop. Es geht ja in fast allen Copfilmen darum, dass die Polizei und der Staat gegenüber dem Verbrechen stets einen Schritt zu spät kommen (erst kürzlich sagte Denzel Washington als Doug Carlin in Tony Scotts DÉJÀ VU, er würde gern einmal ein Verbrechen verhindern, bevor es geschieht, anstatt es erst im Nachhinein aufzuklären). Stacey hat dieses Wissen verinnerlicht und nutzt es zu seinem Vorteil. Er tut Kessler eben zunächst gerade nicht den Gefallen, dessen Bild des Kranken und Perversen zu entsprechen und wild mordend durch die Gegend zu ziehen. Stacey hat seinen Mordtrieb sogar so weit im Griff, dass er sich erst ziemlich geschickt ein Alibi verschafft, bevor er dann seinem eigentlichen Opfer nachspürt. Mit seiner abwartenden Haltung treibt er Kessler beim ersten Verhör ja geradewegs in einen unkontrollierten Wutausbruch, bei dem dieser seine eigene Position eher schwächt als stärkt. Kessler lässt sich nicht lange verunsichern, das stimmt, aber seinem Ausbruch aus dem Regelsystem haftet ja durchaus auch ein resignativer Zug an: Nach den Regeln kann er Stacey nicht besiegen. Deswegen ist Kessler hier zwar sehr wohl der Machertyp als den du ihn beschreibst, aber im Vergleich zu anderen Bronson-Rollen wird dies nicht mehr rein positiv bewertet. Um nun wieder die Brücke zu Stefans letztem Beitrag zu schlagen: EIN MANN WIE DYNAMIT scheint ja zunächst einmal verdeutlichen zu wollen, dass das existierende Recht und die darauf basierenden Methoden der Polizei bei einem Kranken nicht mehr greifen, dass andere, neue Regeln (oder Polizisten) notwendig sind. Der Anwalt Staceys spielt ja schon recht früh den Unzurechnungsfähigkeitstrumpf aus, was den Film in Verbindung mit der Besetzung Bronsons als Regeln brechender Cop in der Tat in die Nähe der in den Achtzigerjahren populären, reaktionären Law-and-Order- und Zero-Tolerance-Filmen rückt. Verstärkend kommt hinzu, dass der Film für das Problem, das er darstellt, keine adäquate Lösung neben der Selbstjustiz anbietet: Ohne Kessler könnte Stacey, so scheint es, endlos weitermorden. Gegen diese Deutung spricht meines Erachtens jedoch der Verlauf von Kesslers Alleingang, denn der dramatisiert die Situation ja letzten Endes, lässt die Situation in dem Gemetzel im Wohnheim erst eskalieren – und bringt darüber hinaus die eigene Tochter in Gefahr. Und dann ist da das Ende, das den Zuschauer mit einem Gefühl absoluter Ausweg- und Hoffnungslosigkeit zurücklässt. Der Film lässt also, um Stefans Bild mal aufzugreifen, seinen reaktionären Dampf nicht völlig ab, sondern hält ihn zurück und steht so beständig vor der Implosion.
A: Eben diese Implosion ist es, die ich als die Unentschlossenheit bezeichnet habe, die den Film auf rezeptiver Ebene so zwiespältig macht und m. E. auch unentwirrbar ist. Geradezu „lynchesk“ werden uns Hinweise dafür geliefert, dass der Film die von euch beiden sehr schön erläuterte Zero-Tolerance-Politik der Reagan-Ära vertritt, aber immer wieder gibt es, mehr unter der Oberfläche, dissoziative Momente, die nicht zusammenpassen. Ich bin nach wie vor anderer Meinung als Funk was Staceys angeht. Er hat eine immer wieder gleiche Taktik nach der er vorgeht, von Stefan bereits im Falle Bundys erläutert, und, wie es bei der zerfahrenen Gedankenstruktur psychisch kranker Menschen üblich ist, kann das innere Gleichgewicht sehr schnell ins Wanken geraten, wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt. Bereits beim Mord zu Beginn an seiner Arbeitskollegin tötet er auch ihren Freund, obwohl dieser nicht das anvisierte Hassobjekt Staceys war. Er ist, wie es im Film auch gesagt wird, zufällig getötet worden. Nur wenige Tage später auf der Beerdigung belauscht Stacey das Gespräch über das Tagebuch, welches ihn eventuell verraten könnte. Das geht ihm ab da nicht mehr aus dem Kopf – durch die hallenden Stimmen in seinem Kopf, die das Tagebuchgespräch wiederholen, verdeutlicht – und er macht sich in Panik auf dem Weg zur Wohnung. Als die Mitbewohnerin seiner getöteten Arbeitskollegin überraschend nach Hause kommt, versteckt er sich und nutzt keine Chance zur Flucht. Stattdessen folgt er wieder dem zwanghaften Schema, entkleidet sich und tötet die junge Frau mit einem langen Küchenmesser. Dieses hatte er vorher schon aus der Küche entwendet, um den Nachtschrank aufzubrechen, in dem er das Tagebuch vermutete (die Fixierung auf das penetrierende Messer als Allzweckwaffe). Nach diesem „außerordentlichen“ Mord und der extrem angespannten Mimik Gene Davis’, wenn er es endlich schafft die Schublade herauszubrechen, hat Stacey nun überhaupt nichts mehr von einem überlegt und planend Handelnden. Die Überraschung folgt auf dem Fuß: Das Tagebuch ist nicht mehr da. Kessler hatte es schon längst abgeholt und als Stacey, von den Bildern des neuerlichen Mordes verfolgt, in seine Wohnung fährt, wartet Kessler dort schon mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Die Frage lautet darum auch nicht, ob er Stacey schnappen wird, sondern wie. Stacey kann Kessler nicht täuschen, aber, und da stimme ich Funk zu, er weiß wie man sich das geltende Recht zunutze macht. Kesslers Ausbruch gegenüber Stacey ist somit nicht durch kühle Provokation motiviert – Stacey wirkt in seiner zusammengesunkenen Haltung eher wie ein Junge den man beim Süßigkeiten Klauen erwischt hat –, sondern durch Kesslers zunehmende Verzweiflung an den Gesamtumständen, was auch wieder an die Post-Nixon-Ära erinnert (Kessler erscheint wie kurz vor der Explosion, vielleicht der einzige Rettungsversuch des dämlichen Verleihtitels). Wenn man Vietnam schon verloren hat, muss wenigstens die Schlacht im eigenen Lager gewonnen werden. Doch, und auch hier stimme ich mit Funk überein, gibt es gewisse Taten und Täter, die in eine Abgründigkeit führen, jenseits üblicher Raubüberfälle oder anderer auf kapitalistischer Ebene nachvollziehbarer Taten. Und auch hier ist der Film extrem weit. Als der Pathologe angibt, dass er kein Sperma in der Leiche gefunden hat und sie offensichtlich nicht vergewaltigt wurde entgegnet Kessler: „Das hätte ich ihnen auch sagen können. Für so einen ersetzt das Messer seinen Penis.“
STEFAN: Das hat mich streckenweise sehr verwirrt – dass Kessler Stacey immer eine Nasenlänge voraus zu sein scheint. Die Sache mit dem Tagebuch, dessen Raub Kessler antizipiert hat, rückt das schon beinahe als unglaubwürdig ins Bild. Aber eben auch nur beinahe. Ich sehe darin eine recht gekonnte Gratwanderung, die mit den zwei zentralen Erzählstrategien des Kriminalfilms spielt: Dem thrill und der suspense. Ersterer wird erreicht, indem die Hauptfigur als Normalbürger eingeführt (man denke an die Krimis Chabrols) wird, der nicht weiß, was auf ihn zukommt und auch nicht richtig in den Situationen reagiert. Bronsons Rolle ist da genauso wie Staceys prototypisch, denn beide sind keine Profis in der Sache (Serienmord), mit der sie beschäftigt sind. Bei der suspense ist – das hat Hitchcock gut entwickelt – die Diskrepanz zwischen dem (Un-)Wissen des Filmhelden und dem Wissen des Zuschauers besonders groß. EIN MANN WIE DYNAMIT hat etliche dieser Szenen, in denen wir wissen, was als nächstes geschieht, die Protagonisten aber nicht. Vor allem in den Mordszenen wird dieses Wissen sehr geschickt zum Spannungsaufbau genutzt. Die spezielle Leistung des Films liegt meines Erachtens nun darin, dass die beiden Erzählstrategien gekonnt überkreuzt werden. Wir als Zuschauer werden verführt, uns in die souveräne Position zu denken und dann passieren solche Sachen wie, dass Kessler das Tagebuch bereits vor dem Einbruch Staceys sichergestellt hat. Nun werden wir verführt, der von uns ursprünglich als harmloser Bürobulle angesehenen Figur Kesslers doch mehr Professionalität und Berechnung zuzugestehen, als wir das zu Anfang taten und werden damit prompt wieder in die Suspense-Falle gelockt: Zwar weiß Kessler, dass Stacey der Killer ist, aber sein Wissen nützt ihm nichts, denn er hat es nicht mit einem Meisterverbrecher zu tun, den er mit seinen eigenen Mitteln (im Verbund mit einem wasserdichten Strafgesetz-Paragrafen) schlagen könnte, sondern mit einem Psychopathen, der – und das ist vielleicht der Dreh- und Angelpunkt des Films – nicht nur von seiner Erkrankung weiß, sondern dieses Wissen auch noch „krankhaft“ dazu missbraucht, das System zu unterminieren. Damit entfaltet sich eines der Hauptprobleme des Serienmörderfilms: Dass die Krankheit hinter dem Verbrechenstyp ein ständiges Rätsel für Ermittler und Zeugen (Zuschauer) bleiben muss und mit den normalen Mitteln der Strafverfolgung nicht zu bekämpfen ist. Schaut man sich einmal die Hysterien an, die seit dem späten 19. Jahrhundert angesichts solcher Mordserien immer wieder aufgetreten sind, wird schnell klar, dass bei diesen Fällen mehr als nur Recht und Ordnung auf dem Spiel stehen. Es geht um das Dilemma der Unmöglichkeit einer Bestrafung geistig Kranker. Deshalb ist der finale Schuss in EIN MANN WIE DYNAMIT für mich auch – anders als Funk das sieht – keineswegs ein verhindertes Dampfablassen. Es ist genau die Art der Stammtisch-Gerechtigkeit, die jedes Mal, wenn ein Serienmordfall die Öffentlichkeit erreicht, zu hören ist: kurzen Prozess machen. Es wäre einmal interessant, die genaue sozialpsychologische (und vielleicht auch individualpsychologische) Bedingung solcher Selbstjustiz-Phantasien bei Serienmordfällen unter die Lupe zu nehmen.
FH: Ja, zumal die pathologische Disposition des Serienmörders ja selten verschwiegen – auch Thompson bemüht sich ja das gestörte Innenleben Staceys zu bebildern - und somit fast zwangsläufig eine gewisse Empathie erzeugt wird. Um nochmal auf den Streitpunkt unserer Diskussion zu kommen: Ich denke, wir liegen trotz aller durchschimmernder Differenzen gar nicht so weit auseinander. Stacey gerät immer dann unter Druck und aus der Fassung, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, was sich meines Wissens nach mit klassischen Serienmord-Fällen deckt. Dennoch gelingt es ihm am Ende den Spieß unerwartet umzudrehen und Kessler in einer Situation hinters Licht zu führen, als sich dieser selbst und auch der Zuschauer ihm komplett überlegen wähnt – auch ein Beispiel für die von Stefan ins Feld geführte geschickte Spannungsdramaturgie des Films, die man als ein beständiges Schwanken charakterisieren kann. Was die Stellung des Films innerhalb des Selbstjustizdiskurses angeht, muss ich etwas einlenken: Ja, der Film ist zwiespältig, weil auch hier das Klagelied von den unzureichenden Gesetzen angestimmt wird, die gerade in solchen Fällen versagen, in denen der Bürger von ihnen besonderen Schutz benötigt. Aber in EIN MANN WIE DYNAMIT findet gegenüber anderen Selbstjustizfilmen eine Akzentverschiebung statt, die ihn eher in die Nähe des vor einiger Zeit hier besprochenen VIGILANTE rückt. In Thompsons Film ist die Selbstjustiz kein (ge)rechtes Mittel, um die kaputte Welt wieder heile zu machen, sondern selbst Ausdruck der untragbaren und unumkehrbaren Zustände. Kessler bringt sich mit seinem Alleingang ja komplett in Misskredit und zwar nicht nur bei den Vorgesetzten (die in solchen Filmen ja immer die Spießer und Paragrafenreiter sind): Er mag auch dem Zuschauer nicht mehr als Held erscheinen – im Grunde ist er das letzte Opfer Staceys (ein bisschen wie Detective David Mills in Finchers SEVEN – auch die Schlusseinstellung mit der sich vom Tatort entfernenden Kamera und den sich nähernden Polizeiwagen erinnert an Finchers Serienmordklassiker). Sein Blick am Ende weist ihn als gebrochenen Mann aus, der weiß, dass er eine Grenze übertreten hat und eine Rückkehr für ihn unmöglich ist. Sein Triumph ist eigentlich eine Niederlage. Wenn Thompson die Selbstjustiz als „Endlösung“ präsentiert, dann ist das meinem Verständnis des Filmes nach eher als Eingeständnis zu begreifen, dass die menschliche Gesellschaft am Boden liegt, und weniger als explizite Aufforderung zur Ergreifung härterer Methoden. Der Weg Kesslers wird von Regisseur Thompson nicht als gangbar bzw. praktikabel oder gar wünschenswert gezeichnet, vielmehr ähnelt Kesslers Werdegang in EIN MANN SIEHT ROT dem eines klassischen Tragödienhelden. Betont wird dies meines Erachtens durch die Etablierung von Kesslers Partner McAnn, der zwischenzeitlich zur Hauptfigur und vor allem zum Sympathieträger wird und nicht nur gegen Stacey ermitteln muss, sondern auch gegen den eigenen Verbündeten, um ihn vor einer Dummheit zu schützen, was ihm jedoch misslingt. Er gerät den ganzen Film über nicht ins Wanken und ist davon überzeugt, dass Stacey auch mit legalen Mitteln zu stellen ist, während Kessler diese Möglichkeit gar nicht mehr in Betracht zieht. Insofern scheint mir Bronson durchaus programmatisch besetzt worden zu sein: Kessler ist die konsequente Weiterentwicklung älterer Bronsonfiguren, ein Mann, der aus seinen zementierten Denkmustern nicht mehr ausbrechen kann.
USA 1983
Regie: J. Lee Thompson, Drehbuch: J. Lee Thompson, William Roberts, Kamera: Adam Greenberg, Musik: Robert O. Ragland, Schnitt: Peter Lee-Thompson
Darsteller: Charles Bronson (Leo Kessler), Andrew Stevens (Paul McAnn), Lisa Eilbacher (Laurie Kessler), Gene Davis (Warren Stacey), Wilford Brimley (Captain Malone), Geoffrey Lewis (Dave Dante)
Synopsis: In Los Angeles treibt sich ein Serienmörder herum, der seine Probleme mit Frauen kompensiert, indem er den Geschlechtsakt durch blutrünstige Morde ersetzt. Polizist Leo Kessler und sein junger Partner Paul McAnn erwischen mit Warren Stacey bald schon einen Verdächtigen, der aber ein hieb- und stichfestes Alibi vorweisen kann. Weil Kessler überzeugt davon ist, mit Stacey den richtigen erwischt zu haben und er an der Hilflosigkeit des Apparates verzweifelt, konstruiert er belastende Beweise. Als der Schuss nach hinten losgeht, beginnt er den Killer mit unkonventionellen Methoden in die Enge zu treiben. Doch damit bringt er seine eigene Tochter in Gefahr ...
DER AUSSENSEITER: Nach längerer Zeit wenden wir uns mit dem hier besprochenem Film mal wieder einer Ikone zu. Charles Bronson, in den 70ern einer der bestbezahlten und populärsten Schauspieler der westlichen Hemisphäre, sah in den frühen 80ern seinen Stern sinken und unterschrieb mit dem Vertrag für die Cannon Group gleichzeitig auch das Ende seiner Karriere als seriöser Schauspieler. Golan und Globus hatten nicht viel Interesse daran, ihrem größten Star altersgerechte Rollen zu besorgen, sondern wollten ihn mehr als Actionstar in Konkurrenz zu den neu aufkommenden hard bodies setzen. Man sollte nicht vergessen, dass es Eastwood damals ganz ähnlich erging und dieser mit dem grauenhaften vierten Teil der DIRTY HARRY-Reihe in ähnlichen trüben Gewässern fischte. Was die Action angeht, gibt sich dieser als Thriller zu bezeichnende Film eher verhalten, das macht ihn allerdings nicht weniger reißerisch. Thematisch wurden hier zwei Kriminalfälle aus dem wahren Leben kombiniert. Einmal der des Mörders Richard Speck, der acht Schwesternschülerinnen tötete, sowie der eines namentlich nicht bekannten, aber umgehend aus dem Polizeidienst entfernten Beamten Scotland Yards, der Beweise manipulierte, um einen Serienkiller zu stoppen, der die Gegend um die Londoner Themse unsicher machte.
STEFAN: Und dennoch merkt man Bronson in EIN MANN WIE DYNAMIT über weite Strecken das typische DEATH WISH-Image nicht an. Im Gegenteil wird er ja als erfahrener, routinierter und deeskalativer Charakter gezeichnet. Für mich haben sich da schon einige Parallelen zu DAS STUMME UNGEHEUER ergeben: Die Actionhelden werden zu regelrechten Familientypen, wenn ein Serienmörder im Spiel ist. Das hat natürlich vor allem mit der Etablierung bürgerlicher Familienwerte und einer Aufrechterhaltung eines Rollenklischees (Mann/Vater als Beschützer der Familie) zu tun. Erst durch die Konstellierung des Actionhelden in eine familiäre Struktur kann der Plot die nötige „Fallhöhe“ bekommen, um eine Gefahrensituation für den Zuschauer nachvollziehbar zu machen. Dass damit aber gleichzeitig eine gewisse Destruktion der Härte und Unnahbarkeit des Actionhelden verbunden ist, eröffnet eine interessante Dialektik im Genre. Ich verfolge das Motiv des Serienmörders in der Filmgeschichte ja seit einiger Zeit und stelle da fest, dass er als „Bedrohung des Privaten“ und „Jedermann“ genau zu solchen Neukonstellierungen in den verschiedensten Genres führt. Man sehe sich bloß einmal an, welche Wandlung die Ermittlerfiguren im Kriminalgenre gemacht haben, die mit ihm konfrontiert waren.
FUNKHUNDD: Da habt ihr mir eine schöne Brücke gebaut, denn ich kann euren Beobachtungen nur zustimmen. Bronsons typisches Rächerimage wird hier eigentlich zum ersten Mal seit dem originären EIN MANN SIEHT ROT kontextualisiert und somit vermenschlicht. Kessler ist nicht wie Paul Kersey qua göttlicher Fügung zum Vigilanten bestimmt, sondern wird erst durch die Umstände dazu gemacht. Wenn Kessler in der zweiten Hälfte des Films das Gesetz zu seinen Gunsten beugt, ist das vor allem ein Akt der Verzweiflung – so verletzlich wie hier war Bronson in seinen späteren Filmen nie wieder. Kessler weiß, dass er Unrecht begeht. Und im Unterschied zur berühmten DEATH WISH-Reihe gibt es hier auch keinen Befürworter seines Alleingangs. Kessler stellt sich wie der Killer außerhalb der Ordnung und muss dafür (vermutlich) den Preis zahlen. Stefan hat ja schon im letzten Text angesprochen, dass Killer und Ermittler im Serienmörderfilm immer verwandt sind, der eine ist das dunkle Spiegelbild des anderen. Insofern ist das Ende von EIN MANN WIE DYNAMIT nicht weit von Michael Manns MANHUNTER entfernt, der am Schluss andeutet, dass der Ermittler das Werk des Killers fortführen wird. Um kurz auf Warren Stacey zu kommen: Mir fiel bei Betrachtung noch ein anderer berühmter Serienmörder ein, nämlich Ted Bundy. Wie dieser ist Stacey ein gutaussehender junger Mann, kultiviert und intelligent. Seine Morde sind keine Amokläufe, sondern minutiös geplant. Kessler bleibt nichts anderes übrig als die Regeln des Spiels neu zu definieren, weil er seinem Gegner in allen Belangen unterlegen ist.
A: Dass Warren Stacey nach einem wiederkehrenden Schema vorgeht ergibt sich ja schon durch den in der Terminologie festgelegten Begriff des „Serienkillers“. Dieser geht immer nach einem Muster und in zeitlichen Abständen vor und steht im Profiling im genauen Gegensatz zum „Massenmörder“ oder auch „Amokläufer“. Stacey selbst erschien mir keinesfalls als in irgendeiner Weise überlegen. Bereits zu Beginn, nach dem Raglands krachende Vorspannmusik endet, sehen wir ihn wie er seine Arbeitskollegin beobachtet und einen Flashback hat, bei dem er versucht ihr am Arbeitsplatz das Kleid auszuziehen. Als sie ihm daraufhin den Kaffee ins Gesicht schüttet, macht er eine ziemlich jämmerliche Figur. Nach der Beobachtung seiner Arbeitskollegin geht er in seine Wohnung und frönt dort seinem Körperkult. Die narzisstische Rückflucht die er begeht wird bereits an seiner Einrichtung offensichtlich. Ein Poster, das ihn in einer Karatepose darstellt, ein Plakat über Stierkampf, ein großer Spiegel, vor dem er sich ausgedehnt betrachtet und mit Pflegeprodukten versieht. Sein trainierter Körper, die gepflegte Erscheinung und seine Mimik, die eine Mischung aus Hass, Frustration und Triumph ausstrahlt, zeigt ihn als von Komplexen zerfressenen Menschen, der ein bedenkliches Maß an Überkompensation nötig hat. Tatsächliche Brillanz erzielt er dann nur bei seinen Mordhandlungen. Die Figur Charles Bronsons stellt den Gegenpol dar und bereits bevor die Musik des Vorspanns beginnt, werden wir mit ihr im Polizeibüro vertraut gemacht. Leo Kessler lässt sich nicht auf der Nase rumtanzen und weist den schleimigen Reporter, der ein paar Informationen abstauben möchte, gleich in seine Schranken. Leo Kessler bestimmt die Regeln, Leo Kessler hat Vorfahrt, Leo Kessler will den Killer. Interessant ist hierbei, dass Stacey ein derartiges Würstchen ist, dass er Kessler keine fünf Minuten täuschen kann. Sein Instinkt, jahrzehntelanger Polizeiarbeit geschuldet, „verrät“ ihm sofort, dass mit Stacey etwas nicht stimmt. Doch dieser weiß sich gut hinter den Regeln zu verstecken, den Regeln des Gesetzes. Und hier kommt der für mich interessanteste Punkt zutage, der diesem Film das Etikett zwiespältig verleiht wie kaum einem zweiten: Kesslers ungebremstes Verhalten, die Regeln einfach seinen Vorstellungen anzupassen, wenn Forensik und Justiz versagen, zeigt in seiner Drehbuchkonzeption einen bis zum äußersten gehenden Menschen. Eine absolut zwiespältige Figur, deren Handeln man eigentlich nicht gutheißen kann, egal wie negativ Stacey auch dargestellt wird. Doch besetzt mit der Selbstjustiz-Ikone Bronson könnte man meinen, der Film befürworte das Hintergehen der Justiz. Hier zeigt sich dann auch die von Funk erwähnte Ähnlichkeit von Pro- und Antagonist. Beide brechen die Regeln, doch Stacey tut es aus innerem Zwang – er ist krank – und Kessler aus äußerem. Doch Kessler wird Stacey später ebenfalls einem äußeren Zwang aussetzen, wogegen er, obwohl schon aus dem Polizeidienst entlassen, wie aus inneren Zwängen heraus handelnd erscheint. Eine psychologisch interessante Komponente, die bei einer anderen Besetzung – man denke an Sean Connery in SEIN LEBEN IN MEINER GEWALT – klar aufgehen würde, doch durch Bronson wird einem der Zugang erschwert, was natürlich den Reiz dieses Filmes ausmacht.
STEFAN: Die Anlehnung an den Ted-Bundy-Fall ist überdeutlich, darin stimme ich Funk zu. Angefangen bei der Charakterisierung des Täters über seine Wahl der Tatorte (Bundys spektakulärster Mord war ein Überfall im Studentinnen-Wohnheim) bis hin zu Details (etwa dass Bundy und Stacey beide VW Käfer fahren). Trotzdem Bundys Tatausführungen die Handschrift kühle Präzision aufwiesen, kann man sowohl Bundy keine minutiöse Tatplanung unterstellen, noch scheint mir dies bei den meisten anderen Serienmördern zuzutreffen. Bundy ist nach eigenen Aussagen zumeist einem diffusen inneren Antrieb gefolgt, der sexuell (sadistisch) motiviert war. Seine Opfer hat er dann zumeist zufällig ausgewählt, jedoch immer eine sehr durchdachte Tatausführung an den Tag gelegt. Am bekanntesten ist sein Trick mit dem verbundenen Arm geworden, mit dem er Mitleid provoziert hat, um so seinem Opfer nahe zu kommen. Dem gegenüber steht aber der bereits beschriebene Amoklauf im Wohnheim und vor allem sein letzter Mord an einer 14-Jährigen. Stacey ist ihm da recht ähnlich, wenn auch seine Motivation, wie Außenseiter schon sagt, eher aus extrem narzisstischen Kränkungen herzurühren scheint. Kessler (dessen Name wohl nicht ohne Grund wie der des berüchtigten Profilers „Robert K. Ressler“ klingt) ist ihm in gewisser Weise mit seiner ständigen Konfligierung von „legal“ und „right“ ähnlich. Wo Stacey auf der Basis seiner eigenen, der psychischen Struktur untergeordneten Moralvorstellung agiert (tötet), hebt Kessler sein (durchaus privates) Gerechtigkeitsempfinden über das Rechtssystem und meint damit einem common sense von „Recht“ zu dienen. Interessant für mich ist hier weniger die Qualität dieser Verschiebung von kriminalhistorischen Personen und Begebenheiten in die Fiktion, als der Grund dafür. Ich sehe EIN MANN WIE DYNAMIT als einen Film, der die von Philip Jenkins in „Using Murder. The Social Construction of Serial Homicide“ beschriebene „Panic“-Ära (1983 – 1985) mit einleitet: In diese Zeit fällt nicht nur die Aufdeckung von spektakulären Serienmordfällen (Henry Lee Lucas, verhaftet im Juni 1983), sondern auch eine Welle extremer Mediatisierung von Serienmordfällen. Angefangen bei der Yellowpress über Magazine (selbst in Hustler, Penthouse und Playboy gab es 1983 etliche Artikel zum Phänomen Serienmord) bis hin zu Fernsehmagazinen wie „20/20“, „Good Morning, America“ und „Nightwatch“ wurde Angst vor dem Serienmörder geschürt. Ein Film wie EIN MANN WIE DYNAMIT reagiert bereits sehr früh auf diese Hysterisierung der Öffentlichkeit und stellt dieser ein „Rezept“ zur Verfügung, das dem scheinbar fruchtlosen Treiben des Justizapparates endlich ein Handlungskonzept entgegenhält, das Ergebnisse produziert. Filme wie dieser (aber auch der in derselben Hinsicht interpretierbare DIRTY HARRY, der auf den ungeklärten Zodiac-Fall reagiert) bilden ein kulturelles Ventil. Dass dieses Ventil derartig reaktionären Dampf ablässt, könnte wiederum aus dem politischen Kontext jener Zeit verstanden werden. Wo zuvor (und danach) durch Verständnisproduktion und -stiftung Mitleid mit den psychisch kranken Tätern geherrscht hat, wird jetzt, 1983, in den Iden der Reagan-Ära auf defense und revenge gesetzt.
FH: Zunächst noch einmal zur „Überlegenheit“ Staceys: Diese ergibt sich weniger aus einer wie auch immer gearteten Charakterstärke – natürlich ist er vor allem Opfer seiner selbst und zutiefst verunsichert, vor allem gegenüber Frauen – als vielmehr aus der typischen Konstellation von Verbrecher (spezieller: Serienmörder) und Cop. Es geht ja in fast allen Copfilmen darum, dass die Polizei und der Staat gegenüber dem Verbrechen stets einen Schritt zu spät kommen (erst kürzlich sagte Denzel Washington als Doug Carlin in Tony Scotts DÉJÀ VU, er würde gern einmal ein Verbrechen verhindern, bevor es geschieht, anstatt es erst im Nachhinein aufzuklären). Stacey hat dieses Wissen verinnerlicht und nutzt es zu seinem Vorteil. Er tut Kessler eben zunächst gerade nicht den Gefallen, dessen Bild des Kranken und Perversen zu entsprechen und wild mordend durch die Gegend zu ziehen. Stacey hat seinen Mordtrieb sogar so weit im Griff, dass er sich erst ziemlich geschickt ein Alibi verschafft, bevor er dann seinem eigentlichen Opfer nachspürt. Mit seiner abwartenden Haltung treibt er Kessler beim ersten Verhör ja geradewegs in einen unkontrollierten Wutausbruch, bei dem dieser seine eigene Position eher schwächt als stärkt. Kessler lässt sich nicht lange verunsichern, das stimmt, aber seinem Ausbruch aus dem Regelsystem haftet ja durchaus auch ein resignativer Zug an: Nach den Regeln kann er Stacey nicht besiegen. Deswegen ist Kessler hier zwar sehr wohl der Machertyp als den du ihn beschreibst, aber im Vergleich zu anderen Bronson-Rollen wird dies nicht mehr rein positiv bewertet. Um nun wieder die Brücke zu Stefans letztem Beitrag zu schlagen: EIN MANN WIE DYNAMIT scheint ja zunächst einmal verdeutlichen zu wollen, dass das existierende Recht und die darauf basierenden Methoden der Polizei bei einem Kranken nicht mehr greifen, dass andere, neue Regeln (oder Polizisten) notwendig sind. Der Anwalt Staceys spielt ja schon recht früh den Unzurechnungsfähigkeitstrumpf aus, was den Film in Verbindung mit der Besetzung Bronsons als Regeln brechender Cop in der Tat in die Nähe der in den Achtzigerjahren populären, reaktionären Law-and-Order- und Zero-Tolerance-Filmen rückt. Verstärkend kommt hinzu, dass der Film für das Problem, das er darstellt, keine adäquate Lösung neben der Selbstjustiz anbietet: Ohne Kessler könnte Stacey, so scheint es, endlos weitermorden. Gegen diese Deutung spricht meines Erachtens jedoch der Verlauf von Kesslers Alleingang, denn der dramatisiert die Situation ja letzten Endes, lässt die Situation in dem Gemetzel im Wohnheim erst eskalieren – und bringt darüber hinaus die eigene Tochter in Gefahr. Und dann ist da das Ende, das den Zuschauer mit einem Gefühl absoluter Ausweg- und Hoffnungslosigkeit zurücklässt. Der Film lässt also, um Stefans Bild mal aufzugreifen, seinen reaktionären Dampf nicht völlig ab, sondern hält ihn zurück und steht so beständig vor der Implosion.
A: Eben diese Implosion ist es, die ich als die Unentschlossenheit bezeichnet habe, die den Film auf rezeptiver Ebene so zwiespältig macht und m. E. auch unentwirrbar ist. Geradezu „lynchesk“ werden uns Hinweise dafür geliefert, dass der Film die von euch beiden sehr schön erläuterte Zero-Tolerance-Politik der Reagan-Ära vertritt, aber immer wieder gibt es, mehr unter der Oberfläche, dissoziative Momente, die nicht zusammenpassen. Ich bin nach wie vor anderer Meinung als Funk was Staceys angeht. Er hat eine immer wieder gleiche Taktik nach der er vorgeht, von Stefan bereits im Falle Bundys erläutert, und, wie es bei der zerfahrenen Gedankenstruktur psychisch kranker Menschen üblich ist, kann das innere Gleichgewicht sehr schnell ins Wanken geraten, wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt. Bereits beim Mord zu Beginn an seiner Arbeitskollegin tötet er auch ihren Freund, obwohl dieser nicht das anvisierte Hassobjekt Staceys war. Er ist, wie es im Film auch gesagt wird, zufällig getötet worden. Nur wenige Tage später auf der Beerdigung belauscht Stacey das Gespräch über das Tagebuch, welches ihn eventuell verraten könnte. Das geht ihm ab da nicht mehr aus dem Kopf – durch die hallenden Stimmen in seinem Kopf, die das Tagebuchgespräch wiederholen, verdeutlicht – und er macht sich in Panik auf dem Weg zur Wohnung. Als die Mitbewohnerin seiner getöteten Arbeitskollegin überraschend nach Hause kommt, versteckt er sich und nutzt keine Chance zur Flucht. Stattdessen folgt er wieder dem zwanghaften Schema, entkleidet sich und tötet die junge Frau mit einem langen Küchenmesser. Dieses hatte er vorher schon aus der Küche entwendet, um den Nachtschrank aufzubrechen, in dem er das Tagebuch vermutete (die Fixierung auf das penetrierende Messer als Allzweckwaffe). Nach diesem „außerordentlichen“ Mord und der extrem angespannten Mimik Gene Davis’, wenn er es endlich schafft die Schublade herauszubrechen, hat Stacey nun überhaupt nichts mehr von einem überlegt und planend Handelnden. Die Überraschung folgt auf dem Fuß: Das Tagebuch ist nicht mehr da. Kessler hatte es schon längst abgeholt und als Stacey, von den Bildern des neuerlichen Mordes verfolgt, in seine Wohnung fährt, wartet Kessler dort schon mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Die Frage lautet darum auch nicht, ob er Stacey schnappen wird, sondern wie. Stacey kann Kessler nicht täuschen, aber, und da stimme ich Funk zu, er weiß wie man sich das geltende Recht zunutze macht. Kesslers Ausbruch gegenüber Stacey ist somit nicht durch kühle Provokation motiviert – Stacey wirkt in seiner zusammengesunkenen Haltung eher wie ein Junge den man beim Süßigkeiten Klauen erwischt hat –, sondern durch Kesslers zunehmende Verzweiflung an den Gesamtumständen, was auch wieder an die Post-Nixon-Ära erinnert (Kessler erscheint wie kurz vor der Explosion, vielleicht der einzige Rettungsversuch des dämlichen Verleihtitels). Wenn man Vietnam schon verloren hat, muss wenigstens die Schlacht im eigenen Lager gewonnen werden. Doch, und auch hier stimme ich mit Funk überein, gibt es gewisse Taten und Täter, die in eine Abgründigkeit führen, jenseits üblicher Raubüberfälle oder anderer auf kapitalistischer Ebene nachvollziehbarer Taten. Und auch hier ist der Film extrem weit. Als der Pathologe angibt, dass er kein Sperma in der Leiche gefunden hat und sie offensichtlich nicht vergewaltigt wurde entgegnet Kessler: „Das hätte ich ihnen auch sagen können. Für so einen ersetzt das Messer seinen Penis.“
STEFAN: Das hat mich streckenweise sehr verwirrt – dass Kessler Stacey immer eine Nasenlänge voraus zu sein scheint. Die Sache mit dem Tagebuch, dessen Raub Kessler antizipiert hat, rückt das schon beinahe als unglaubwürdig ins Bild. Aber eben auch nur beinahe. Ich sehe darin eine recht gekonnte Gratwanderung, die mit den zwei zentralen Erzählstrategien des Kriminalfilms spielt: Dem thrill und der suspense. Ersterer wird erreicht, indem die Hauptfigur als Normalbürger eingeführt (man denke an die Krimis Chabrols) wird, der nicht weiß, was auf ihn zukommt und auch nicht richtig in den Situationen reagiert. Bronsons Rolle ist da genauso wie Staceys prototypisch, denn beide sind keine Profis in der Sache (Serienmord), mit der sie beschäftigt sind. Bei der suspense ist – das hat Hitchcock gut entwickelt – die Diskrepanz zwischen dem (Un-)Wissen des Filmhelden und dem Wissen des Zuschauers besonders groß. EIN MANN WIE DYNAMIT hat etliche dieser Szenen, in denen wir wissen, was als nächstes geschieht, die Protagonisten aber nicht. Vor allem in den Mordszenen wird dieses Wissen sehr geschickt zum Spannungsaufbau genutzt. Die spezielle Leistung des Films liegt meines Erachtens nun darin, dass die beiden Erzählstrategien gekonnt überkreuzt werden. Wir als Zuschauer werden verführt, uns in die souveräne Position zu denken und dann passieren solche Sachen wie, dass Kessler das Tagebuch bereits vor dem Einbruch Staceys sichergestellt hat. Nun werden wir verführt, der von uns ursprünglich als harmloser Bürobulle angesehenen Figur Kesslers doch mehr Professionalität und Berechnung zuzugestehen, als wir das zu Anfang taten und werden damit prompt wieder in die Suspense-Falle gelockt: Zwar weiß Kessler, dass Stacey der Killer ist, aber sein Wissen nützt ihm nichts, denn er hat es nicht mit einem Meisterverbrecher zu tun, den er mit seinen eigenen Mitteln (im Verbund mit einem wasserdichten Strafgesetz-Paragrafen) schlagen könnte, sondern mit einem Psychopathen, der – und das ist vielleicht der Dreh- und Angelpunkt des Films – nicht nur von seiner Erkrankung weiß, sondern dieses Wissen auch noch „krankhaft“ dazu missbraucht, das System zu unterminieren. Damit entfaltet sich eines der Hauptprobleme des Serienmörderfilms: Dass die Krankheit hinter dem Verbrechenstyp ein ständiges Rätsel für Ermittler und Zeugen (Zuschauer) bleiben muss und mit den normalen Mitteln der Strafverfolgung nicht zu bekämpfen ist. Schaut man sich einmal die Hysterien an, die seit dem späten 19. Jahrhundert angesichts solcher Mordserien immer wieder aufgetreten sind, wird schnell klar, dass bei diesen Fällen mehr als nur Recht und Ordnung auf dem Spiel stehen. Es geht um das Dilemma der Unmöglichkeit einer Bestrafung geistig Kranker. Deshalb ist der finale Schuss in EIN MANN WIE DYNAMIT für mich auch – anders als Funk das sieht – keineswegs ein verhindertes Dampfablassen. Es ist genau die Art der Stammtisch-Gerechtigkeit, die jedes Mal, wenn ein Serienmordfall die Öffentlichkeit erreicht, zu hören ist: kurzen Prozess machen. Es wäre einmal interessant, die genaue sozialpsychologische (und vielleicht auch individualpsychologische) Bedingung solcher Selbstjustiz-Phantasien bei Serienmordfällen unter die Lupe zu nehmen.
FH: Ja, zumal die pathologische Disposition des Serienmörders ja selten verschwiegen – auch Thompson bemüht sich ja das gestörte Innenleben Staceys zu bebildern - und somit fast zwangsläufig eine gewisse Empathie erzeugt wird. Um nochmal auf den Streitpunkt unserer Diskussion zu kommen: Ich denke, wir liegen trotz aller durchschimmernder Differenzen gar nicht so weit auseinander. Stacey gerät immer dann unter Druck und aus der Fassung, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, was sich meines Wissens nach mit klassischen Serienmord-Fällen deckt. Dennoch gelingt es ihm am Ende den Spieß unerwartet umzudrehen und Kessler in einer Situation hinters Licht zu führen, als sich dieser selbst und auch der Zuschauer ihm komplett überlegen wähnt – auch ein Beispiel für die von Stefan ins Feld geführte geschickte Spannungsdramaturgie des Films, die man als ein beständiges Schwanken charakterisieren kann. Was die Stellung des Films innerhalb des Selbstjustizdiskurses angeht, muss ich etwas einlenken: Ja, der Film ist zwiespältig, weil auch hier das Klagelied von den unzureichenden Gesetzen angestimmt wird, die gerade in solchen Fällen versagen, in denen der Bürger von ihnen besonderen Schutz benötigt. Aber in EIN MANN WIE DYNAMIT findet gegenüber anderen Selbstjustizfilmen eine Akzentverschiebung statt, die ihn eher in die Nähe des vor einiger Zeit hier besprochenen VIGILANTE rückt. In Thompsons Film ist die Selbstjustiz kein (ge)rechtes Mittel, um die kaputte Welt wieder heile zu machen, sondern selbst Ausdruck der untragbaren und unumkehrbaren Zustände. Kessler bringt sich mit seinem Alleingang ja komplett in Misskredit und zwar nicht nur bei den Vorgesetzten (die in solchen Filmen ja immer die Spießer und Paragrafenreiter sind): Er mag auch dem Zuschauer nicht mehr als Held erscheinen – im Grunde ist er das letzte Opfer Staceys (ein bisschen wie Detective David Mills in Finchers SEVEN – auch die Schlusseinstellung mit der sich vom Tatort entfernenden Kamera und den sich nähernden Polizeiwagen erinnert an Finchers Serienmordklassiker). Sein Blick am Ende weist ihn als gebrochenen Mann aus, der weiß, dass er eine Grenze übertreten hat und eine Rückkehr für ihn unmöglich ist. Sein Triumph ist eigentlich eine Niederlage. Wenn Thompson die Selbstjustiz als „Endlösung“ präsentiert, dann ist das meinem Verständnis des Filmes nach eher als Eingeständnis zu begreifen, dass die menschliche Gesellschaft am Boden liegt, und weniger als explizite Aufforderung zur Ergreifung härterer Methoden. Der Weg Kesslers wird von Regisseur Thompson nicht als gangbar bzw. praktikabel oder gar wünschenswert gezeichnet, vielmehr ähnelt Kesslers Werdegang in EIN MANN SIEHT ROT dem eines klassischen Tragödienhelden. Betont wird dies meines Erachtens durch die Etablierung von Kesslers Partner McAnn, der zwischenzeitlich zur Hauptfigur und vor allem zum Sympathieträger wird und nicht nur gegen Stacey ermitteln muss, sondern auch gegen den eigenen Verbündeten, um ihn vor einer Dummheit zu schützen, was ihm jedoch misslingt. Er gerät den ganzen Film über nicht ins Wanken und ist davon überzeugt, dass Stacey auch mit legalen Mitteln zu stellen ist, während Kessler diese Möglichkeit gar nicht mehr in Betracht zieht. Insofern scheint mir Bronson durchaus programmatisch besetzt worden zu sein: Kessler ist die konsequente Weiterentwicklung älterer Bronsonfiguren, ein Mann, der aus seinen zementierten Denkmustern nicht mehr ausbrechen kann.
A: Deine Ausführungen zur Figur Kessler finde ich geradezu brillant und kann mich ihnen nur anschließen. Ein Verständnisproblem gibt es eigentlich nur bei dem Begriff „zwiespältig“, der von mir rein auf der rezeptiven Ebene verstanden wird und nicht in einer post-determinierten Weise die in den Selbtjustizfilm-Diskurs kontextualisiert ist. Letzteres erachte ich für irrelevant festzustellen, da Filme in denen Selbstjustiz thematisiert wird immer inhaltlich zwiespältig sind. Vielmehr ist es so, dass die von dir gemachte Beobachtung der Figur Kesslers so weder vom Verleih, noch von der Werbung, noch vom Großteil des Publikums wahrgenommen wurde. Genau hierauf bezog ich mich in dem Verweis, dass man mit einem anderen Hauptdarsteller einen Thriller über Schuld und Sühne hätte drehen können, doch dies durch den „Priming-Effekt“, den Bronson zu dieser Zeit beim Publikum auslöste, erschwert wird. Was von Dir so eindeutig wahrgenommen wurde, ist in seiner Darstellung völlig unklar. Den gebrochenen Blick, den du Kessler zum Schluss zuschreibst, gibt es gar nicht. Nachdem Kessler auf Staceys Drohung, die Welt werde noch von ihm hören, sagt: „Nein, das werden wir nicht.“, fällt der Schuss, Aufschrei Kesslers Tochter, Schnitt auf den rauchenden Colt und die Kamera wechselt in die Totale. Von Reue und Gebrochenheit, auch wenn ich die Szene wie du interpretiere, ist da nichts zu sehen. Man könnte genauso gut auch fragen: „Wollt ihr den Mann jetzt dafür anklagen?“, wenn er zum Schluss herausfordernd seine geballten Fäuste vor McAnn hält (eine ähnliche Frage stellte mir meine Mutter). Und auch hier macht Thompson nicht den Fehler zu viel zu verraten, indem er das Bild nicht einfriert – der Hubschrauber „tobt“ über der Szenerie – sondern die Schauspieler sich einfach nicht mehr bewegen lässt. Bis zur Abblende verharren alle in ihrer Position und keiner der anwesenden Polizisten geht auf ihn zu, um ihn zu verhaften. Diese Uneindeutigkeit zieht sich durch den ganzen Film. Deswegen führt mich dies auch noch mal zu der Frage, wie man einen kranken Menschen „gerecht bestrafen“ kann. Interessant ist doch, dass hier mit etwas spekuliert wird, dass es so in der Psychiatrie eigentlich nicht gibt. Der Film schildert einen Serienkiller, der sich der Schwere seiner Tat bzw. des Unrechtes das er begeht, voll bewusst ist, der ein normales Leben führen kann und nur dann und wann eine Frau töten muss, wenn die Frustration Überhand nimmt und dabei Polizisten, Richter und Psychologen hintergeht, ohne von irgendeiner Institution aufgedeckt werden zu können. Eine Art Super-Serienkiller, dem nicht anders als durch die von Stefan erwähnte Stammtisch-Gerechtigkeit beizukommen ist. Hier wird einfach die Angst ausgenutzt, die ein Täter verbreitet, dessen Taten kaum bis überhaupt nicht nachvollziehbar sind, der „irre“ ist, aber wiederum klar genug, sich hinter seiner Krankheit zu verstecken. Eine psychologische Unmöglichkeit, um die Panik vor so einem die Paragrafen umgehenden Täter zu schüren. Doch, und hier muss ich jetzt wieder für Funk argumentieren und werde damit ein Opfer der Zwiespältigkeit des Filmes, lässt der Film Kessler mit seinem Rechtsbruch nicht sauber wegkommen. Ganz im Gegenteil: In dem Moment als Kessler von seinem Partner zur Wahrheit gedrängt wird, ist die Figur auf Drehbuchebene in der Ambivalenz der Genrekonvention gefangen und innerhalb der Diegese entscheidet sie sich, um leidlich integer zu bleiben und als Ausgleich für das vorhergehende Unrecht, für die Wahrheit. Dieser Moment vor Gericht ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten und die Konsequenzen für Kessler dürften verheerend sein, doch der Film thematisiert dies gar nicht mehr. Er wird zwar aus dem Polizeidienst entlassen, aber über eine weitere Ermittlung erfahren wir nichts. Interessant hierbei auch, dass eine Bekannte von mir, die um Bronsons Superstar-Status und von seinen Filmen nichts wusste, ihn als Antagonisten verifizierte. Auch die melancholische Klaviermusik, die den Abspann untermalt, spricht eher dafür, dass Kessler zwar Gerechtigkeit gesprochen hat, persönlich aber endgültig gescheitert ist. Der Film ist schwer einzuordnen, was mir die Diskussion über ihn mal wieder bestätigt. Zu wirklicher Klarheit bin ich leider immer noch nicht gekommen.
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